Reinkarnation
25. 05. 2021 ||| Der Coronavirus hat dazu geführt, dass meine Menschen nach 22 Uhr nicht mehr auf die Straße gehen dürfen, es sei denn, sie nehmen mich mit. Irgendwie toll, dass sich eine deutsche Bundesregierung darum kümmert, dass wir Hunde endlich den richtigen Stellenwert in unseren Rundeln zugeschrieben bekommen. Weil ich aber nach 22 Uhr gar keinen Harndrang mehr habe, bleiben wir alle drei nachts auf unserem Grundstück und warten gemeinsam auf die Zeiten, zu denen wir wieder überall hingehen oder hinfahren dürfen. Herrchen ist als alter Mann seit drei Tagen zum zweiten Mal geimpft und darf damit bald wieder ein Bier trinken oder etwas essen gehen; Frauchen ist noch viel zu jung, sie muss noch auf ihre Impfung warten.
So bleiben uns nur die regelmäßigen Spaziergänge in den umliegenden Wäldern, in den Weinbergen oder direkt an der Ahr. Kölner oder Bonner Straßenpflaster habe ich schon über ein Jahr nicht mehr unter die Pfoten bekommen, ebenso wenig habe ich unter einem Kneipentisch sitzen und die anderen Gäste beobachten können. Und so gibt es auch kaum etwas Neues zu schreiben in diesem Blog, weil eben nichts Neues passiert.
Aber die Zeit der Ruhe und Besinnlichkeit hat Herrchen auf die Gedanken gebracht, dass ich die Reinkarnation von Freund sein müsste, und deshalb erzähle ich nun das von ihm, was ich so gehört habe:
Als Herrchen mit seinem alten Schulfreund eine kleine Fima, die stiwa-design, und eine Wohngemeinschaft in der alten Filmemacherei in der Hamburger Brüderstraße gegründet hatte, da wollte er einen Wachhund haben, weil die Tür zum vorderen Ladenlokal so undicht war, dass jeder nachts einfach hereinspazieren konnte. Genes Freund war für einen kleinen Kläffer, der Fremde melden würde, Gene selbst wollte einen "richtigen" Hund, keine Fußhupe.
Im Tierheim an der Süderstraße gab es im Innenbereich eine Box mit etwa zehn verschiedenen kleinen Hunden diversester Rassen, neben Pudelmischling und Spitz auch zwei ganz junge Schäferhundwelpen mit Schlappohren und riesengroßen Pfoten. Damals (wir sind in den 70er Jahren) durften wohl nur eine bestimmte Anzahl von Welpen pro Wurf vom Züchter angemeldet werden und deshalb wurden die Überwürfe entweder ertränkt, erschlagen oder ohne Papiere ins Heim verbannt. Den Aufgeweckteren von den beiden Schäferhundwelpen suchte sich Gene aus und sie nannten ihn Freund.
Freund wuchs schnell heran und durfte schon in ganz jungen Monaten abends mit in die Kneipe gehen, wenn seine Herren dort musizierten, aßen und tranken, denn er hatte sich bei seinem allerersten Abend allein zu Hause gleich ordentlich angestrengt: er hatte ein Bücherregal umgeworfen, allen Büchern, wirklich allen Büchern die Rücken zerbissen, ein paar Schuhe kräftig aufgemischt und eine Verlängerungsschnur zu einer Stehlampe ganz durchgebissen.
Mit etwa sieben Monaten rannte er wie immer die drei Stufen hinunter auf den Bürgersteig, wo ihm aber diesmal alle Pfoten durcheinander kamen und er auf dem Bauch quer über den Bürgersteig bis in die Gosse rutschte; er hatte Glatteis erlebt und wurde in der Folge etwas ruhiger und vorsichtiger.
Als Freund erwachsen war, durfte er überall hin mitgehen. Er brauchte keine Leine, weil er am Fuß gehen konnte, ohne sich von irgend etwas oder irgend jemanden ablenken zu lassen. Weil er in der U- und S-Bahn eine Fahrkarte hätte haben müssen, lernte er, auf dem Bahnsteig etwa zehn Meter entfernt von Herrchen auf den Zug zu warten, dann selbstständig an der nächsten Tür einzusteigen und sich so zu platzieren, dass er Herrchen beim Aussteigen beobachten und ihm folgen konnte.
Im VW-Cabrio war er unbezahlbarer Wachmann auf dem Rücksitz, denn er ließ nicht einmal Politessen so nah an das Fahrzeug, dass sie ein Strafmandat unter die Scheibenwischer klemmen konnten.
Auf Firmengeländen wußte er, wann und wie er sich an Pförtnerlogen vorbeizumogeln hatte, damit er im Klassenraum für den Englischunterricht unter Herrchens Pult schlafen konnte, wenn es zu kalt war, im Auto zu warten.
Jeder, der Freund traf, war begeistert von ihm, denn er war unheimlich liebenswert, aufmerksam und unaufdringlich. Selbst vierzig Jahre nach seinem Tod erwähnen ihn noch Bekannte und Freunde von Herrchen, wenn sie nach vielen Jahren mal wieder telefonischen Kontakt aufnehmen.
Die erzwungene Buddhistische Ruhe der Coronamonate hat natürlich dazu geführt, dass wir alle im Rudel noch viel enger miteinander kommunizieren. Es gibt täglich eine ganze Anzahl von Phasen, da schlafe ich unter dem einen oder dem anderen Schreibtisch im Haus. Dann gibt es stundenlange Fellpflegeorgien oder auch nur Kraulstunden. Ich komme zum Fernsehen, wenn ich bestimmte Erkennungsmelodien höre, denn ich weiss, da taucht dann gleich bestimmt ein Hund auf oder zumindest ein Pferd oder ein Huhn oder eine Komikfigur, die ich mit einem kurzen Jaulen begrüßen kann.
Ansonsten bin ich zuhause die absolute Reinkarnation von Freund. Draußen aber fehlt mir noch die Gelassenheit. Freund hat sich an jeder Bordsteinkante hingesetzt und auf den Befehl gewartet, die Fahrbahn kreuzen zu dürfen. Einmal haben die Menschen, die ihn ausgeführt haben, vergessen ihm den Befehl zu geben. Als sie 10 Minuten später feststellten, dass sie Freund verloren hatten, sind sie zurückgelaufen, und er lag noch immer an der Bordsteinkante vor dem Zebrastreifen über die Barmbeker Straße.
Ich kann nicht so ruhig bleiben. Wenn ich einen Hund oder eine Katze sehe, dann gehen mit mir die Nerven durch; ich will hin, spielen oder kloppen oder nur schnuppern; Hauptsache hin. Der Tierarzt sagt, das ist die moderne Züchtung, ich könne nichts dafür.
Guter Tierarzt!